Argument der menschlichen Grenzfälle

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Das Argument der menschlichen Grenzfälle (Im Folgenden AMG) ist eine Begründungsstruktur in der Tierethik. Ausgehend von der Annahme, dass es keine Eigenschaft(en) gibt, die die menschliche Spezies auf diskrete Art und Weise von nichtmenschlichen Spezies unterscheiden, sagt das Argument Folgendes: Wenn man Nichtmenschen auf Grund von (irgendwelchen) Eigenschaften moralische Normen abspricht, existieren immer auch Menschen, die diese Eigenschaften vermissen lassen. Diese Menschen sind dann die sogenannten Grenzfälle.

Ein konkretes (und klassisches) Beispiel für ein AMG wäre ein Teil der Dekonstruktion einer Tierethik nach Immanuel Kant durch Tom Regan: Nach Kant, so Regan, „täte man etwa einem Kleinkind selbst kein Unrecht, würde man es stundenlang foltern. Vielmehr sei die moralische Grundlage einer Verurteilung dieser Handlung anderswo zu suchen - Nämlich in den Auswirkungen auf den Charakter der Folternden, die dadurch 'hart' im Umgang mit ihren Mitmenschen würden, die moralischh Handelnde sind.“ Weil das absurd sei, sei Kants Rationalitätskriterium für einen Ausschluss von Nichtmenschen von moralischen Grundrechten zurückzuweisen.[1]

Formen des AMG

Evelyn Pluhar unterscheidet zwei Versionen des AMG:[2]

  1. Das bikonditionale AMG: Es sagt, der moralische Status von nichtmenschlichen Tieren und „Grenzfällen“, die sich in den relevanten Eigenschaften ähneln, sei äquivalent. Solche Tiere haben dann und nur dann Rechte, wenn die entsprechenden Menschen sie haben. Ob das der Fall ist, verbleibt offen.
  2. Das kategorische AMG: Es zeichnet sich dadurch aus, das Argument zur Begründung von moralischen Normen zu nutzen. Falls etwa wie in dem Beispiel nichtmenschliche Tiere wegen des Fehlens der Eigenschaft(en), im Eingangsbeispiel wegen des Fehlens von Rationalität, keine Rechte hätten, so hätten die „Grenzfälle“, also Menschen ohne Rationalität, ebenfalls keine. Diesen Sachverhalt stellen dann sie meisten VertreterInnen des Arguments in einen Widerspruch zu den Menschenrechten und begründen so die Existenz von Tierrechten, oder anderen ethischen Normen. Das Argument wird für gewöhnlich in der logischen Struktur einer Kontraposition vorgebracht und ist auch hier so dargestellt. („Tierrechte existieren nicht Menschenrechte existieren nicht“)

Kritiken

  • R. G. Frey und Allan Holland bemerken, dass das Argument als solches, in Pluhars Terminologie wäre die bikonditionale Version gemeint, allein lediglich einen Widerspruch aufzeigt und sich über dessen Auflösung ausschweigt. Nicht zuletzt lasse sich die ihrer Ansicht nach inakzeptable Position der Ablehnung von Menschenrechten für „Grenzfälle“ folgern. Eine solche Auflösung wird von einigen auch verteidigt.[3] VerfechterInnen des Begriffs des Antispeziesismus sehen ihre These, dass eine Diskriminierung aufgrund von Spezieszugehörigkeit existiere und analog zur Diskriminierung aufgrund von beispielsweise Geschlecht, Religion oder Hautfarbe verlaufe dadurch bestätigt und in der Offenheit des Arguments eine Stärke.[2]
  • Arthur Caplan weist darauf hin, dass ein menschlicher Grenzfall sich durch eine emotionale Beziehung zu einem nicht-Grenzfall unterscheiden kann und daraus eine ethische Erheblichkeit erwachsen kann.[4] James Lindemann Nelson weist diesen Punkt zurück. Derlei Beziehungen existieren einerseits auch für zwischen nicht-Grenzfällen und Nichtmenschen. Andererseits gäbe es auch hier wieder einen Meta-Grenzfall von Menschen, die nicht in einer solchen Beziehung zu nicht-Grenzfällen stehen stehen.[5]
  • Steven F. Sapontzis beobachtet: Das AMG stellt Nichtmenschen in eine vergleichende Beziehung zu Menschen mit Behinderung und ihre Rolle in der Ethik. Das sei deshalb irreführend, weil der moralische Wert von Nichtmenschen (oder Menschen) keineswegs aus einer Ähnlichkeit erwachse, sondern aus einem Respekt für den Eigenschaften übergeordneten Tugenden, die sich beobachten ließen.[6]
  • Das AMG sei unfair gegenüber Menschen mit Behinderung: Menschen die grundlegende kognitive Fähigkeiten aus irgend einem Grund verlieren seien in ihrer Persönlichkeit entstellt. Menschen die von Geburt an solche Fähigkeiten nicht haben, seien auch benachteiligt, weil sie keine „normalen Mitglieder ihrer Spezies“ werden können. Das stehe im Unterschied zu nichtmenschlichen Tieren, die diese Zugehörigkeit durchaus besitzen können. Daraus lasse sich auf eine Situation der moralischen Überlegenheit von Menschen mit Behinderung schließen. Die Antwort der TierrechtlerInnen darauf ist, dass das Argument Zirkulär sei: ( petitio principii) In dem Begriff der „Benachteiligung“ oder der „unfairness“ sei der moralische übergeordnete Wert der Menschen mit Behinderung gegenüber den Tieren bereits enthalten während gleichzeitig für diesen argumentiert wird.[2]

Quellen

  • Dombrowski, Daniel. Babies and Beasts: The argument from marginal cases University of Illinois Press, 1997, ISBN 978-0252066382.
  • Animal Liberation: A New Ethics for our Treatment of Animals, Peter Singer, New York Review/Random House, New York, 1975; Cape, London, 1976; Avon, New York, 1977; Paladin, London, 1977; Thorsons, London, 1983. Harper Perennial Modern Classics, New York, 2009.
  • E. Anderson: Animal rights and the values of nonhuman life. In: Animal rights: Current debates and new directions. 2004, S. 277–98.
    • Als Antwort darauf: DANIEL A. DOMBROWSKI: Is the Argument from Marginal Cases Obtuse? In: Journal of Applied Philosophy. 23. Jahrgang, Nr. 2, 2006, S. 223–232, doi:10.1111/j.1468-5930.2006.00334.x (doi.org [abgerufen am 15. Juli 2010]).
  • Marc Bekoff: Encyclopedia of Animal Rights and Animal Welfare. 1. Auflage. Greenwood Press, 1998, ISBN 0-313-29977-3 (gov.ar [PDF]).
    • Darin Artikel von James Lindemann Nelson und Evelyn Pluhar Seite 262 ff. in der verlinkten Datei und Seite 236 ff. im Druck
  • Pluhar, Evelyn, Beyond Prejudice: The Moral Significance of Human and Nonhuman Animals (Durham, NC: Duke University Press, 1995)

Einzelnachweise

  1. The Case for Animal Rights S. 182 ff.
  2. a b c Nach Pluhar in Bekoff S. 264 ff. der Datei
  3. Frey, R. G., Vivisection, Morals, and Medicine, Journal of Medical Ethics 9 (1983) 95–104;
    Als jemanden der die von Frey (et al.) inkriminierte Auflösung verteidigt, siehe Townsend, Peter, Radical Vegetarians, Austral-asian Journal of Philosophy 57(1) (1979): 85–93 und Carruthers, Peter, The Animals Issues: Moral Theory in Practice (Cambridge: Cambridge University Press, 1992); Auf der Seite der VertreterInnen von Tierrechten ließe sich Peter Singer nennen, der so eine Auflösung vorschlägt. Ihm zufolge haben viele Tiere ein mit allen Menschen gemeinsames Interesse, nicht zu leiden. Daraus folgert er, unter Anderem mit einem AMG, eine Ablehnung von Massentierhaltung, vielen Tierexperimenten, Tiernutzung in der Unterhaltung etc. Tiere (Mit Ausnahme einiger Primaten) hätten aber andererseits keine „geistige Existenz im zeitlichen Kontinuum“. Einige Menschen hätten diese Eigenschaft auch nicht. Deshalb sei eine „schmerzlose Tötung“ (zu einem beliebigen Zweck, etwa der Forschung) beider Wesen moralisch zu rechtfertigen. Vgl. dazu G. L Francione: Introduction to animal rights: your child or the dog? Temple Univ Pr, 2000, ISBN 1-56639-692-1. Kapitel 6.
  4. Caplan, Arthur, Is Xenografting Morally Wrong? Transplantation Proceedings 24 (1992): 722–727
  5. In Beckoff S. 263 der Datei
  6. Sapontzis, Steven F., Are Animals Moral Beings? American Philosophical Quarterly 17 (1980): 45–52; Sapontzis, Steven F., Speciesism, Between the Species 4 (1988): 97–99.