Katastrophentheorie (Mathematik)

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Die mathematische Katastrophentheorie beschäftigt sich mit unstetigen, sprunghaften Veränderungen kontinuierlicher dynamischer Systeme. Diese können, auch wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen einen stabilen Zustand anstreben, bei Änderungen der Parameter sprunghafte, nichtstetige, diskontinuierliche Änderungen der Lösung erfahren.

Die Katastrophentheorie untersucht das Verzweigungs-Verhalten dieser Lösungen (Bifurkationen) bei Variation der Parameter und ist damit eine wichtige Grundlage zur mathematischen Behandlung der Chaostheorie. Manchmal wird in der Mathematik lieber von Theorie der Singularitäten differenzierbarer Abbildungen gesprochen, und der reißerische Name Katastrophentheorie vermieden. Hauptergebnis ist die Einteilung dieser Singularitäten in sieben „Normaltypen“.

Die Katastrophentheorie fußt grundlegend auf der Differentialtopologie. Entwickelt wurde sie Ende der 1960er Jahre von René Thom, Wladimir Arnold und anderen. Sie findet Anwendung und Erweiterungen unter anderem in der modernen Physik und Ökonomie, aber auch in der Linguistik und der Psychologie und war deshalb auf diesen Gebieten in den 1970er Jahren als eine unmittelbar anwendbare qualitative mathematische Methode beliebt. Besonders aktiv war dabei der englische Mathematiker Erik Christopher Zeeman, der die Theorie von der Schiffsstabilität bis zur Evolutionstheorie einsetzte. Dies führte auch zu einer Gegenreaktion und Kritik an den Anwendungen der Theorie (speziell durch Zeeman) ab den 1970er Jahren[1]. Thom selbst suchte, wie der Titel seines Buches von 1972 zeigt, vor allem Anwendungen in der Biologie (speziell der Embryo-Entwicklung, Morphogenese).

Elementare Katastrophen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Katastrophentheorie analysiert entartete kritische Punkte von Potentialfunktionen. Das sind Punkte, bei denen neben allen ersten Ableitungen auch einige der höheren Ableitungen Null sind. Die Punkte bilden den Keim (germ) der Katastrophen-Geometrien. Die Entartung kann durch Entwicklung der Potentialfunktion in einer Taylorreihe und kleine Störung des Parameters „entfaltet“ werden.

Lassen sich die kritischen Punkte durch kleine Störungen nicht beseitigen, nennt man sie strukturell stabil. Ihre geometrische Struktur lässt sich bei drei oder weniger Variablen der Potentialfunktion und fünf oder weniger Parametern dieser Funktion durch nur sieben Typen von (Bifurkations-)Geometrien klassifizieren. Sie entsprechen den Normalformen, auf die die Taylorentwicklung um Katastrophen-Keime mit Hilfe von Diffeomorphismen (differenzierbaren Abbildungen) zurückgeführt werden kann.

Mathematische Formulierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Man betrachtet von freien Parametern abhängende Potentialfunktionen in Variablen, also differenzierbare Funktionen . Sei die Menge der kritischen Werte, also der Lösungen von , als Teilmenge von . Die Projektion auf den Parameterraum definiert die „Katastrophen-Abbildung“ .

Der Satz von Thom besagt, dass für generische Funktionen

  • eine -dimensionale Mannigfaltigkeit ist,
  • jede Singularität der Katastrophen-Abbildung äquivalent zu einer aus der Liste der Elementarkatastrophen ist,
  • die Katastrophen-Abbildung an jedem Punkt von bezüglich kleiner Störungen von lokal stabil ist.

Potentialfunktionen einer Variable[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Praxis sind die Faltungsbifurkationen und die Spitzen-Katastrophe (Cusp-Geometrie) die bei weitem wichtigsten Fälle der Katastrophentheorie und treten in zahlreichen Fällen auf. Die restlichen Katastrophen sind dagegen sehr speziell und werden hier nur der Vollständigkeit halber aufgeführt.

Stabile und instabile Extrema-Paare verschwinden an einer Faltungs-Katastrophe

Faltungs-Katastrophe (fold catastrophe)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei negativen Werten von a hat die Potentialfunktion ein stabiles und ein instabiles Extremum. Nimmt der Parameter a langsam zu, kann das System dem stabilen Minimum folgen. Bei a = 0 treffen sich die stabilen und instabilen Extrema und heben sich auf (Bifurkationspunkt). Für a > 0 gibt es keine stabile Lösung mehr. Ein physikalisches System würde bei a = 0 seine für negative a vorhandene Stabilität plötzlich verlieren und sein Verhalten umkippen.

Spitzen-Katastrophe (cusp catastrophe)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Cusp-Katastrophe tritt ziemlich häufig auf bei Betrachtung des Verhaltens einer Faltungs-Katastrophe, wenn ein zweiter Parameter b dem Parameterraum hinzugefügt wird. Ändert man nun die Parameter, gibt es eine Kurve (in der Abbildung blau) von Punkten im Parameterraum (a,b), bei deren Überschreiten die Stabilität verlorengeht. Statt eines Extremums gibt es nun zwei zu denen das System springen kann. Ändert man periodisch b, kann man so auch im Ortsraum ein „Hin- und Herspringen“ erzeugen. Das ist allerdings nur für den Bereich a < 0 möglich, je mehr sich a Null nähert, desto kleiner werden die Hysterese-Kurven und verschwinden bei a = 0 schließlich ganz.

Hält man umgekehrt b konstant und variiert a beobachtet man im symmetrischen Fall b = 0 eine Stimmgabel-Bifurkation (pitchfork bifurcation): nimmt a ab, spaltet sich eine stabile Lösung plötzlich in zwei stabile und eine instabile Lösung auf, wenn das System den Cusp-Punkt a = 0, b = 0 zu negativen Werten von a passiert. Das ist ein Beispiel für spontanen Symmetriebruch. Weiter weg vom Cusp-Punkt fehlt dieser plötzliche Wechsel in der Struktur der Lösung und es taucht einzig eine zweite mögliche Lösung auf.

Ein bekanntes Beispiel modelliert mit dem Cusp das Verhalten eines gestressten Hundes zwischen Unterwürfigkeit und Angriffslust. Bei mäßigem Stress (a > 0) zeigt der Hund je nach Provokation (Parameter b) ein stetiges Übergangsverhalten zwischen beiden Verhaltensweisen. Bei höherem Stress (Region a < 0) bleibt der Hund auch bei abgeschwächter Provokation in eingeschüchtertem Zustand, um dann plötzlich bei Erreichen des Faltungspunktes in aggressives Verhalten umzukippen, was er auch bei Reduzierung des Provokationsparameters beibehält.

Ein weiteres Beispiel ist der am kritischen Punkt (a=b=0) erfolgende Übergang eines magnetischen Systems (präziser: eines ferromagnetischen Systems, z. B. Eisen) bei Unterschreiten der kritischen Temperatur Tc aus dem unmagnetischen in den ferromagnetischen Zustand. Dabei ist der Parameter a proportional zur Temperaturdifferenz T-Tc und b proportional zum Magnetfeld. Ferner kann man an diesem Beispiel sehr gut den Begriff Spontane Symmetriebrechung erklären, da im ferromagnetischen Zustand - abhängig vom Vorzeichen eines sehr schwachen symmetriebrechenden Magnetfeldes - eine der beiden eingezeichneten Richtungen bevorzugt wird.

Die Katastrophentheorie vernachlässigt dabei die hier in der Umgebung des kritischen Punktes auftretenden Fluktuationen, z. B. die Magnetisierungsfluktionen (vgl. Monodromie).

Schwalbenschwanz-Katastrophe (swallowtail catastrophe)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Schwalbenschwanz-Katastrophe

Hier ist der Raum der Kontrollparameter dreidimensional. Die Bifurkationsmenge besteht aus drei Flächen von Faltungskatastrophen, die sich in zwei Cusp-Bifurkationen treffen. Diese wiederum treffen sich in einem einzigen Schwalbenschwanz-Bifurkationspunkt.

Gehen die Parameter durch die Flächen der Faltungs-Bifurkationen, verschwindet ein Minimum und ein Maximum der Potentialfunktion. An den Cusp-Bifurkationen werden zwei Minima und ein Maximum durch ein Minimum ersetzt, hinter ihnen verschwindet die Faltungs-Bifurkation. Im Schwalbenschwanz-Punkt treffen sich zwei Minima und zwei Maxima an einem einzigen Punkt x. Für Werte a > 0, jenseits des Schwalbenschwanzes, gibt es abhängig von den Parameterwerten b und c entweder ein Maximum-Minimum-Paar oder überhaupt keines. Zwei der Flächen der Faltungs-Bifurkationen und die beiden Kurven der Cusp-Bifurkationen verschwinden im Schwalbenschwanz-Punkt und nur eine einzige Fläche von Faltungs-Bifurkationen bleibt. Salvador Dalís letztes Gemälde Der Schwalbenschwanz basierte auf dieser Katastrophe.

Schmetterlings-Katastrophe (butterfly catastrophe)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Abhängig von den Parametern kann die Potentialfunktion 3, 2 oder 1 lokales Minimum haben. Die verschiedenen Bereiche werden im Parameterraum durch Faltungsbifurkationen getrennt. Am Schmetterlings-Punkt treffen sich die verschiedenen 3-Flächen von Faltungsbifurkationen, 2-Flächen von Cusp-Bifurkationen und Kurven von Schmetterlings-Bifurkationen und verschwinden, um nur eine einzige Cusp-Struktur für a>0 übrigzulassen.

Potentialfunktionen in zwei Variablen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Umbilic catastrophes („Nabel“) sind Beispiele für Katastrophen vom Ko-Rang Zwei. In der Optik sind sie u. a. in den Brennpunktsflächen wichtig (bei Lichtwellen, die an Flächen in drei Dimensionen reflektiert werden). Sie sind eng mit der Geometrie fast-sphärischer Flächen verbunden. Nach Thom modelliert die Hyperbolic-umbilic-Katastrophe das Brechen einer Welle und die elliptic umbilic die Entstehung Haar-ähnlicher Strukturen.

Hyperbolic-umbilic-Katastrophe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Elliptic-umbilic-Katastrophe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Parabolic-umbilic-Katastrophe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Arnold’s Notation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wladimir Arnold gab den Katastrophen die ADE-Klassifikation, die auf tiefliegenden Verbindungen zu Liegruppen und -algebren und ihren Dynkin-Diagrammen beruht.

  • A0 – ein nicht-singulärer Punkt, .
  • A1 – ein lokales Extremum, entweder ein stabiles Minimum oder ein instabiles Maximum .
  • A2 – die Faltung, fold
  • A3 – die Spitze, cusp
  • A4 – der Schwalbenschwanz, swallowtail
  • A5 – der Schmetterling, butterfly
  • Ak – eine unendliche Folge von Formen in einer Variabler
  • D4 – der elliptical umbilic
  • D4+ – der hyperbolic umbilic
  • D5 – der parabolic umbilic
  • Dk – eine unendliche Folge weiterer umbilic Formen
  • E6 – der symbolische umbilic
  • E7
  • E8

Auch den restlichen einfachen Liegruppen entsprechen Objekte in der Theorie der Singularitäten (in ADE steht A für die den speziellen unitären Gruppen entsprechenden Diagramme, D für die der orthogonalen Gruppe entsprechenden, E für spezielle einfache Liegruppen).

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Wladimir Arnold: Catastrophe theory. Springer 1998.
  • Robert Gilmore: Catastrophe Theory for Scientists and Engineers. Dover, New York 1993.
  • Hermann Haken: Synergetik. Springer 1982.
  • Tim Poston, Ian Stewart: Catastrophe Theory and Its Applications. Dover, New York 1998, ISBN 0-486-69271-X.
  • René Thom: Structural Stability and Morphogenesis: An Outline of a General Theory of Models. Addison-Wesley, Reading, MA 1989, ISBN 0-201-09419-3.
  • J. Thompson: Instabilities and Catastrophes in Science and Engineering. Wiley, New York 1982.
  • Monte Davis, Alexander Woodcock: Catastrophe Theory. Dutton, New York 1978, Pelican 1980.
  • E. C. Zeeman: Catastrophe Theory-Selected Papers 1972–1977. Addison-Wesley, Reading, MA 1977.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. John Guckenheimer The catastrophe controversy, Mathematical Intelligencer, 1978, Nr. 1, S. 15–20