Santiago Sierra

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Santiago Sierra (* 1966 in Madrid) ist ein spanischer Konzeptkünstler.

Leben und Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sierra studierte Kunst in Madrid, an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg (1989–1991) bei B.J. Blume und in Mexiko-Stadt, wo er seit 1995 lebt.

Er sorgte immer wieder mit seinen gesellschaftskritischen Projekten für Aufsehen. Häufig thematisierte er dabei Armut und Entlohnung, aber auch die etablierte Kunstszene. Befinden sich Betrachter und Kunstwerk in der Kunst traditionell in der Position von Subjekt (Kunstbetrachter) und Objekt (Werk), so wird diese Beziehung in Sierras Aktionen prekär – wenn nicht gar aufgehoben. Seine Praxis integriert die Betrachter in das Werk bzw. sie wird meist erst durch die Zuschauer und deren Reaktion und Imagination zur künstlerischen Praxis.

Sierra dokumentiert oftmals die von ihm konzipierten Aktionen fotografisch bzw. mit Video.

Werke von 1998 bis 2005[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sierra versperrte 1998 eine Kreuzung Mexiko-Stadts und legte so den Verkehr lahm.

Auch ließ er Männer gegen Bezahlung masturbieren; im Jahr 1999 tätowierten sich gegen einen geringen Lohn sechs junge Kubaner eine Linie auf den Rücken. Bei einer anderen Aktion harrten Arbeiter gegen Bezahlung unter Pappkartons aus.

Bei der Eröffnung der Biennale in Venedig im Jahr 2001 färbte er 133 Immigranten die Haare blond und zahlte ihnen je 60 Dollar dafür.[1] Sie sollten so als Europäer gelten. Videos der Aktion stellte Sierra aus.

Auf der spanischen Seite der Straße von Gibraltar bezahlte er im Jahr 2002 ausgesuchte Einwanderer aus Afrika für die Aushebung von Erdlöchern.

Auch ließ Sierra im Jahr 2003 den Pavillon Spaniens bei der Biennale in Venedig zumauern und bewachen. Nur gegen Vorlage eines spanischen Passes durfte das leere Gebäude betreten werden. Eindrucksvoll wurde so die globalisierte Welt und der Umgang mit Migration entlarvt.

Im Jahr 2005 sorgte Sierra erneut für Aufsehen, als er in der hannoverschen Kestnergesellschaft einen Raum mit Schlamm füllte. Den Besuchern wurden Gummistiefel bereitgestellt, mit denen sie in der Installation umherwaten durften. Das Projekt Haus im Schlamm sollte an die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Aushebung des Maschsees in den 1930er Jahren durch etwa 1650 erwerbslose Hannoveraner erinnern. Entgegen ersten Überlegungen wurden bei Sierras Installation weder so genannte 1-Euro-Arbeiter (Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung) noch Originalschlamm aus dem Maschsee verwendet. Erstes verhinderten Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit, zweites eine Bakterienbelastung des Maschseeschlamms.[2]

Projekte zur deutschen Vergangenheit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

245 Kubikmeter und The Punished (Die Gestraften) (2006)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In die Stommeler Synagoge in Pulheim leitete er 2006 im Rahmen des Projektes 245 Kubikmeter die Abgase von sechs Autos und machte sie auf diese Weise zu einer Gaskammer. Besucher konnten den Bereich mit einer Atemschutzmaske und in Begleitung eines Feuerwehrmanns einzeln begehen. Ziel war es, gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust anzugehen und „das chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl“ zu thematisieren. Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierte die Aktion scharf als „niveaulos“ und „Beleidigung der Opfer“. In der Synagoge findet man sich allein, nur von einem Feuerwehrmann im Hintergrund beobachtet. Das eigene Atemgeräusch und das des Feuerwehrmanns ist zu hören und der Blick aus der Atemmaske fällt auf den Raum mit den sechs Schläuchen, durch die das giftige Kohlenmonoxid in die Synagoge geleitet wird. Obwohl der Pulheimer Bürgermeister Karl August Morisse die Aktion zuerst verteidigt hatte,[3] wurde sie von der Stadt gestoppt. Der Künstler kündigte an, sich in einer Diskussion mit den Kritikern auseinanderzusetzen.

Reaktionen zu dem Projekt 245 Kubikmeter[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Daniel Kothenschulte FR:

„Wenn nun Autoabgase in die Stommelner Synagoge geleitet werden, heißt das nicht, dass hier eine absurde Erfahrung simuliert werden soll. Es geht vielmehr darum, einen Ort unbegehbar zu machen, weil man ihn vorübergehend an den Tod vermietet hat.“

(Weblink/Datum fehlt)

Wenke Husmann (Die Zeit):

„Es ist keine Schande, als Künstler Selbstmarketing zu betreiben. Aber man kann den Eindruck gewinnen, hier werde eine Geschmacklosigkeit damit gerechtfertigt, dass sie sich an dem Holocaust-Gedenken reibt.“

Geschmacklos - DZ, März 2006

Christoph Schlingensief im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger:

„Das kann man nicht Kunst nennen. Ein Kunstwerk muss sprechen können, dieses Werk ist in sich schon verstummt. Selbst einem alten ‚Provokationshasen‘ wie mir ist das zu platt. Diese Aktion banalisiert die Aktionen, die Sierra vorher gemacht hat. Sie ist banal, einfach daneben, blöd. Er soll seine Autos vor den Reichstag stellen und das Gas da reinleiten. Die Politiker könnten sich dann in Gasmasken entrüsten. Mal sehen, was dann los wäre. Die Aktion in der ehemaligen Synagoge von Stommeln ist zu dicht dran.“

The Punished[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nur kurz nach dem Start des „Gaskammerprojekts“ in Pulheim bei Köln begann anlässlich der Kunstmesse „Fine Art Fair Frankfurt“ das Projekt „The Punished“. Auch hier setzt sich Sierra mit der deutschen Verantwortung für den Holocaust auseinander. An zehn verschiedenen Orten Frankfurts stellen sich ältere Personen gegen Bezahlung vom 15. bis 19. März 2006 für jeweils vier Stunden symbolisch in die Ecke (aus Scham).

Weitere Arbeiten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Jahr 2012 entstand als erste permanente Arbeit im öffentlichen Raum The Black Cone, Monument To Civil Disobediencevor dem isländischen Parlament in Reykjavík. Für Arnsberg entwarf er 2015 die minimalistische Lichtinstallation The Debt.[4]

Im Februar 2018 wurde eine Serie von 24 verpixelten Schwarz-Weiß-Fotos mit dem Titel „Politische Gefangene in Spanien“ auf Druck der Leitung der Madrider Messegesellschaft (Ifema) aus der Verkaufsausstellung der Kunstmesse ARCO Madrid entfernt. Auf den Schildern unter den Bildern standen die Namen von real existierenden Personen, darunter von drei Aktivisten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung: Jordi Cuixart, Jordi Sànchez und Oriol Junqueras, die sich seit Herbst 2017 in Untersuchungshaft befanden. Das Vorgehen der Ifema führte zu einem Proteststurm in den spanischen Medien; Sierra sprach von einem „Akt der Zensur“.[5]

Ausstellungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 2002: Anheuern und Anordnen von 30 Arbeitern nach ihrer Hautfarbe und The Displacement of a Cacerolada, Kunsthalle Wien (Kat.)
  • 2013: Santiago Sierra: Skulptur, Fotografie, Film, Deichtorhallen, Hamburg (Kat.)[6]

Preise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

2010 sollte Santiago Sierra den Spanischen Nationalpreis Premio Nacional de Artes Plásticas de España erhalten. Er lehnte den mit 30.000 Euro dotierten Preis jedoch ab, u. a. mit den Worten „Dieser Preis instrumentalisiert das Prestige des Prämierten zugunsten des Staates.“ Einem anderen Künstler gegenüber äußerte er, dass er von seiner Arbeit lebe, und nicht davon, den Mächtigen die Eier zu lecken.[7]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. typisch! Klischees von Juden und Anderen. Berlin 2008, ISBN 978-3-89479-479-8, S. 106 (Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin und des Jüdischen Museums Wien).
  2. saalzettel "santiago sierra: haus im schlamm"@1@2Vorlage:Toter Link/www.kestnergesellschaft.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2019. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  3. Die Autos bleiben vorerst aus; faz.net, vom 13. März 2006, abgerufen am 1. Juni 2023
  4. Beschreibung Kunstverein Arnsberg
  5. Thomas Urban, Spanische Eröffnung, sz.de, 22. Februar 2018.
  6. Volker Corsten: Über Kunst lässt sich heftig streiten. In: FAZ.net. 7. Oktober 2013, abgerufen am 28. Januar 2024.
  7. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Produzenten Galerie Halle, 9. November 2010, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 6. Juli 2012; abgerufen am 24. August 2012.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]